Auch wenn die meisten von uns den 20. November 1945 nicht (bewusst) miterlebt haben, ist sicherlich vielen von uns ein Bild der Nürnberger Prozesse aus dem Geschichtsunterricht im Kopf geblieben: Nazis auf der Anklagebank, wie sie mittels Kopfhörer den Ausführungen von vier Richtern folgen.
Und hiermit sind schon zwei essentielle Dinge benannt: Den Verantwortlichen an der Ermordung von sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden und der vielen weiteren Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges wird der Prozess gemacht und zwar international – eine Antwort auf den singulären Charakter der Verbrechen. Des Weiteren ist der Ort des ersten und damit Hauptkriegsverbrecherprozesses bis zum 01. Oktober 1946 von Interesse: Adolf Hitler verfolgte bis zu seinem Tode die Intention aus Nürnberg die Wirkungsstätte des Nationalsozialismus zu machen. Als die Alliierten Nürnberg einnahmen, sprengten sie das über dem Parteitagsgelände der Nationalsozialisten thronende Hakenkreuz weg. Eine ähnliche Symbolkraft sollten die Prozesse entwickeln.
Dieses mit der Idee der Entnazifizierung verbundene Anliegen war angesichts der Schuldigkeit der Deutschen am Zweiten Weltkrieg nicht nur gut begründet, sondern beruhte auf internationalen Vereinbarungen und hieraus entstandenen Rechtsgrundlagen und resultierenden Institutionen. Somit bilden die Moskauer Erklärung von 1943, die Einrichtung des Internationalen Gerichtshofes und die kodifizierten Verbrechen im Londoner Statut legale und legitime Grundlagen für die Prozesse. Sie sind also keine Anzeichen einer – wie es oft heute noch aus sehr konservativen oder rechtspopulistischen Kreisen zu vernehmen ist – viel beschworenen „Siegerjustiz“. Dagegen spricht zudem die Tatsache, dass allen Angeklagten eine angemessene Verteidigung zur Verfügung stand.
Die Legende von der „sauberen Wehrmacht“, die zuvor durch Vertreter der Wehrmacht selbst in Umlauf gebracht worden war und sich hartnäckig bis zur Wehrmachtausstellung in den 1990er Jahren hielt, konnte am Urteilsspruch nichts ändern. Nicht nur Personen aus der nationalsozialistische Führungsriege, wie Hermann Göring, die sich an Staatsämtern persönlich bereichert und im Namen dieser nachweislich Verbrechen an der Menschheit begangen haben, wurden verurteilt, sondern auch Organisationen, wie SS, SD, SA, Gestapo sowie der Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht. Das ist deshalb so bedeutend, weil damit Taten auch geahndet werden konnten, wo es nicht immer möglich war, sie (einer) verantwortlichen Person zuzuordnen. Und das entspricht genau dem systematischen Charakter des industriellen Massenmordes, den das NS-Regime und seine Sympathisanten und Kollaborateure geplant und durchgeführt haben.
Der Nürnberger Prozess ist zum einen deshalb „historisch“, weil er eine rechtsgeschichtliche Bedeutung hat. Zum ersten Mal in der Geschichte wurden die obersten Vertreter eines Staates durch ein unabhängiges Gericht für ihre Taten belangt. Und auch wenn die Nürnberger Prinzipien, auf denen das Verfahren beruhte – wie, dass das Handeln auf höheren Befehl nicht von völkerrechtlicher Verantwortung befreit – erst einmal nur in der Form einer Resolution Bestand hatten und erst nach dem Fall der Mauer international juristisch wirksam wurden, so schufen sie doch Grundlagen für weitere Verfahren, wie dem Eichmann-Prozess oder auch den Auschwitz-Prozessen. Nicht zuletzt waren sie zumindest ein gedanklicher Wegbereiter für eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung in einer Tätergesellschaft, wie die Bundesrepublik Ende der 1960er Jahre.