Ein Beitrag von unserem Mitglied Akin.
Content Notice: Dieser Beitrag möchte versuchen, die Amokfahrt von Hanau in den breiteren Kontext der rechtsextremen Gefährdung unserer Gesellschaft zu bringen. Von der Beschreibung des Leids der Betroffenen und Hinterbliebenen wird aus Respekt abgesehen.
Auf der Mainzer Kundgebung anlässlich des Attentats von Hanau fiel der Satz: „Was für unsere Eltern Solingen war, ist für uns heute Hanau.“ Die Ansprache richtete sich an das gesamte, emotional betrübte Publikum und doch wirkten die Worte gezielt gerichtet auf eine In-Group der Anwesenden. Gemeint waren Menschen mit Zuwanderungsbiographie. Natürlich richten sich rechtsextreme Anschläge vornehm gegen plurale Gesellschaften. Doch bei aller Betroffenheit angesichts widerlicher Gewaltakte sind es nur die Wenigsten, die Leid, Hass und dem Tod wirklich ausgesetzt sind und es sind vermeintlich „fremd“ gelesene Mitmenschen unter uns, die in ihren safer spaces in den Shishabars, Blocksiedlungen, Kiosks und Kulturcafés heute darüber diskutieren müssen, ob es in Deutschland für sie noch sicher genug ist.
In Solingen forderte der Brandanschlag auf das Einfamilienhaus der Familie Genç das Leben von Gürsun Ince (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4). Die 14weiteren Familienmitglieder im Haus erlitten einschneidenden Lebensschmerz. Damals hatte die langwährende, falsch geführte Ausländerdebatte (Gastarbeiter) in die rassistisch motivierte Hetze in der Mitte der Gesellschaft gemündet – diese völkische Bewegung (Baseballschlägerjahre) erlangte mit Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Hoyerswerda ihren verrohten Höhepunkt.
Ein Jahr nach dem Attentat von Hanau am 19. Februar 2020 ist der Aufarbeitungsprozess noch lange nicht abgeschlossen. Eine Frage, die Hinterbliebene immer noch umtreibt ist, wieso die Sicherheitsbehörden trotz Kenntnis über seine rechtsextreme Gesinnung nichts unternommen haben, um seinem Treiben Einhalt zu gebieten. Wenn so jemand den Waffenschein führen und kurz vor der Tat noch erweitern kann, wozu dann überhaupt noch Hintergrundkontrollen? Wieso hat die Notrufzentrale der Polizei die ersten Hinweise nicht ernstgenommen? Wieso hatte die Arena Bar ihren Notausgang verriegelt – und war es wirklich behördlich angeordnet? Auf diese Fragen darf es keine despektierliche Spekulation als Antwort geben. Die Familien der Hinterbliebenen geben sich die Mühe ihres Lebens, dem An-und Gedenken einen Sinn zu geben. Die gegründete Bildungsinitiative Ferhat Unvar wird als Anlaufstelle für Familien mit jüngerer Migrationsgeschichte eine wichtige Stütze, sich in dieser diffusen Gefährdungslage besser zurechtzufinden.
Seitdem hat sich Europa immer noch keine Antwort auf globale Migrationsströme abringen können. Und „die, die schon bei uns sind“ können sich auch Jahrzehnte nach den Baseballschlägerjahren noch auf keinen beständigen Konsens über Einwanderung und Identität in Deutschland verlassen – ein Zukunftsversprechen über Wohlstand und Freiheit für alle scheint in den letzten Jahren in die Ferne gerückt. Dabei sind es keine Fremden. Es sind Hanauer und Hanauerinnen, die kennen nichts anderes als das Leben hier und sind hier beheimatet.
Stabil gegen Rechts – damit Wir leben können
Seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 haben laut Amadeo-Antonio-Stiftung weit über 200 rechtsextremistisch motivierte Attentate auf Andersaussehende, Ausländerinnen, Deutsche, Griechen und Kinder zu einer unerträglichen Art von Normalität beigetragen, mit der wir fertig werden müssen.
Heute ist der Rechtsextremismus (schon wieder) die größte Bedrohung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das Ausmaß von Leid, Neid und Menschenhass lässt sich nicht quantifizieren. Doch hat Deutschland über 32.000 Nazis und Rechtsextreme, von denen etwa 13.000 gewaltbereit sind–das ist der europäisch Spitzenplatz. Keine andere politische Minderheit in Europa lenkt die Geschicke unseres Kontinents so nachhaltig, wie die mörderische Ideologie der Neuen Rechten. In allen europäischen Parteisystemen haben sich rechtspopulistische Strömungen etabliert. Der Brexit, der erstarkte Nationalismus in Ungarn, Tschechien und Polen, hin zum kontrollierten Sterben-Lassen im Mittelmeer: unsere Wertegemeinschaft hat dem Druck von rechts-außen nicht standgehalten.
Auch die politische Mitte hierzulande dümpelt allzu offensichtlich im braunen Sumpf. So sühnte sich zum Beispiel der bayrische Ministerpräsident Markus Söder, der in deutschen Verlagshäusern gegenwärtig als Kanzlerkandidat der (Christ-)Konservativen gehandelt wird, im modernden Schmodder des Neurechten, des zeitgenössischen Faschismus, als er sinngemäß das Ende des „Asyltourismus“ forderte. Als sei es ein kollektiver Kurzurlaub für die ganze Familie. In der CDU Sachsen-Anhalt wünsche man sich perspektivisch, „das Soziale mit dem Nationalen versöhnen“ zu können. Eine maledeite Anbiederung ans Völkische ersehnte sich auch der ehemalige Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU), der von der These der„Anti-Abschiebe-Industrie“ ausgehend, ein maledeites Narrativ der Verklärung politischer Verhältnisse etablierte, von dem sich unsere politische Kultur bis heute nicht erholt hat (siehe Diskurs zu Deutungshoheit links-rechts).
„Was hat sich seitdem geändert?“, fragte die eingangs erwähnte Rednerin. Heute erhalten wir regelmäßige Benachrichtigungen über Reichsbürger, fehlende Munition des Bundesheeres und neu entdeckte Chatgruppen rechtsextremer Netzwerke in Bildungsinstitutionen und Polizeiinspektionen. Dass sich in Deutschland bislang nichts grundlegend – und wenn überhaupt, nur im breiten Konsens abgestimmt – ändern lässt, ist bekannt. Doch wenn sich nichts ändert, verfügt der organisierte Rechtsextremismus auch weiterhin über genügend verblendetes Personal, scharfe Munition und Sprengstoff, um weitere Unschuldige aus dem Leben zu zerren.Und dann wird Hanau wirklich nur unser neues Solingen. Und dann können wir keiner Person glaubhaft erklären, was wir damals unternahmen, als die Nazis wieder anfingen sich durch’s Land zu morden und bomben.
Kein Fußbreit dem Faschismus!
Es war der islamfeindliche Massenmörder Anders Breivik, der am 22. Juli 2011 mit einem Bombenattentat in Oslo und Kugelhagel auf der Insel UtøyaseinerVorstellung einer „weißen Herrenrasse“ (white supremacy) Gehör und so vielen Nachahmern eine Blaupause verschaffte. Sein Anschlagsziel war damals das Zeltlager der sozialistischen Jugendorganisation der Arbeiterpartei – aus seiner Sicht, die nächste Generation sozialdemokratischen politischen Personals der Norweger und Norwegerinnen. Wir Jusos begreifen diesen Tag nur in tiefer Trauer um die 69 Kinder und Jugendlichen, die damals nicht weiterleben durften. Es gibt gegenwärtig keine dringendere Aufgabe als das konsequente, präventive Austrocknen rechtsextremer Netzwerke und der Kampf gegen Faschos, überall, wo wir sie sehen.
Mit der so genannten Alternative für Deutschland (AfD) hat die Neue Rechte einen parlamentarischen Arm, der viel geschickter Politik macht als NPD, Der III. Weg oder DIE RECHTE je Gelegenheit zu hatten. Kurz vor Hanau, löste sie mit der Regierungskrise in Thüringen eine Debatte über das blinde Rechte Auge der FDP und CDU aus. Der Think-Tank der Neuen Rechten nennt sich Institut für Staatspolitik und steht unter Regie des neurechten Götz Kubitschek. Mit der aus öffentlichen Mitteln finanzierten, AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung unter der Leitung von Erika Steinbach erarbeitet sich der deutsche Faschismus eine breitere „wissenschaftliche“, anti-aufklärerische Grundlage für seine Arbeit. Der Architekt der Thüringer Depesche heißt Björn Höcke. Er ist Faschist. Seine Partei ist offen ultranationalistisch und hat militanten Rassismus in unserem Land wiedermals salonfähig gemacht. Wer mit dem Faschismus spielt, der spielt mit mit dem Frieden und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
#SayTheirNames
Ferhat Unvar. Gökhan Gültekin. Hamza Kurtović. Said Nessar Hashemi. Mercedes Kierpacz. Sedat Gürbüz. Kaloyan Velkov. Fatih Saraçoğlu. Vili Viorel Păun.