Vergesst nicht, was passiert ist. Seid immer wachsam.

Als „Weckruf“ oder „Alarmzeichen“ wurde der Anschlag in Halle bezeichnet, wie von der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, oder auch als „unvorstellbar“, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte. Beides ist eklatant falsch und ein Symptom für die zugrundeliegenden Probleme der Misere in der Antisemitismusbekämpfung.

Während die Verwendung eines Wortes, wie „Weckruf“, ja immerhin noch das implizite Eingeständnis enthält, bis jetzt geschlafen zu haben, kann man der Verwendung des Wortes „unvorstellbar“ nur mit völligem Unverständnis gegenüberstehen. Es erweckt den Eindruck, als würde man nun zum ersten Mal mit Antisemitismus im Allgemeinen und eliminatorischem, auf das Töten von Jüdinnen und Juden abzielendem Antisemitismus im Besonderen, konfrontiert werden. Das ist allerdings so dermaßen erkennbar nicht der Fall, dass man sich selbst wie ein Idiot vorkommt, dass man es überhaupt erwähnen muss.

Antisemitismus ist in Deutschland nicht nur vor, sondern auch nach der Gründung der Bundesrepublik eine andauernde Konstante. Und auch Anschläge auf und Morde an Jüdinnen und Juden gab es in den letzten 70 Jahren zuhauf.

Schon in den 50ern kam es zu hunderten von Synagogenschändungen. In den 60ern gab es, neben den allgegenwärtigen Synagogenschändungen, Handgranatenanschläge auf die israelische Botschaft und einen linksextremistischen Brandbombenanschlag auf die jüdische Gemeinde in Berlin, während der Gedenkveranstaltung anlässlich der Novemberpogrome. Nur ein verrosteter Zünder verhinderte zufällig ein Blutbad. Der von mehreren Zeugen als Planer und Initiator benannte, aber nie angeklagte Dieter Kunzelmann, saß später für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus und arbeitete in der Kanzlei des Grünen Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele. Die Bombe selbst besorgte ein V-Mann des Verfassungsschutzes. Während des ganzen Jahrzehnts unzählige Synagogen- und Friedhofsschändungen.

In den 70ern gab es einen Bombenanschlag auf ein Flugzeug Richtung Tel Aviv, 47 Menschen starben, die meisten davon waren Juden. Während der Geiselnahme bei der Olympiade ’72 in München wurden elf Mitglieder des israelischen Olympiateams durch palästinensische Terroristen getötet. Es gab einen Paketbombenanschlag auf den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, den er nur durch Glück unverletzt überlebte. Während der deutschen Erstausstrahlung des Fernsehfilms „Holocaust“ sprengte eine sich selbst „Internationale revolutionäre Nationalisten“ nennende rechtextreme Gruppe mehrere Sendetürme um die Übertragung zu verhindern, was auch teilweise gelang. Während des ganzen Jahrzehnts unzählige Synagogen- und Friedhofsschändungen.

In den 80ern wurden der jüdische Verleger und Rabbiner Shlomo Lewin und seine Frau Frida von Mitgliedern der rechtsextremen „Wehrsportgruppe Hoffmann“ ermordet. Der Täter wurde nie gefasst. Palästinensische Terroristen begingen einen Sprengstoffanschlag auf den Frankfurter Flughafen bei dem drei Menschen schlagen und der bis heute nicht endgültig aufgeklärt ist. Die selbe Gruppe stürmte zuvor bereits während einer Sabbatfeier die Wiener Synagoge mit Sturmgewehren und Handgranaten, wodurch zwei Menschen ums Leben kamen, auf dem Zettel hatten deutsche Behörden sie trotzdem nicht. Während des ganzen Jahrzehnts unzählige Synagogen- und Friedhofsschändungen.

In den 90ern wurde eine Jüdin auf offener Straße mit einem Kopfschuss erschossen. Ein schwedischer Rechtsextremist erhielt dafür lebenslänglich. Kurz darauf ein Sprengstoffanschlag auf ein Holocaustmahnmal. Die Täter gaben nach der Festnahme an, von den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen motiviert worden zu sein. Im selben Jahr wird der 92-jährige Holocaustüberlebende Alfred Salomon in einem Seniorenheim von einem anderen Heimbewohner, einem ehemaligen Obersturmführer, zu Tode gefoltert. Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge, während Menschen darin schliefen. Zwei Täter gefasst. Kurz darauf zweiter Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge, das Gebäude brannte aus. Ermittlungen eingestellt, Täter nie gefasst. Innerhalb von zwei Monaten Sprengstoffanschläge auf das Grab des verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski. Der Grabstein wurde vollständig zerstört. Die Täter wurden nie gefasst, die Ermittler vermuten eine Beteiligung des „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU). Während des ganzen Jahrzehnts unzählige Synagogen- und Friedhofsschändungen.

Die 00er beginnen mit einem Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge. Keine Verletzten, der Brand konnte schnell gelöscht werden. Die beiden Täter waren Rechtsextreme. Genau eine Woche später ein Rohrbombenanschlag an einem Düsseldorfer S-Bahnhof auf zehn ankommende jüdische Migranten aus Russland. Eine Schwangere verlor ihr ungeborenes Kind. 17 Jahre später gibt es eine Festnahme, als jemand auf die Idee kam, Beweismittel auf DNA-Spuren zu überprüfen. Der Festgenommene, ein bekannter Rechtsextremer und vermutlicher V-Mann des Verfassungsschutzes, wurde inzwischen wieder freigelassen. Das Verfahren ist in Revision. Kurz darauf Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge. Zwei Jugendliche arabischer Herkunft warfen Molotowcocktails auf die Synagoge und wurden im Anschluss zu Bewährungsstrafen verurteilt. Vier Tage später ein Brandanschlag auf die Essener Synagoge. Nach einer Palästinenserdemo fand sich ein Mob von 250 Personen zusammen, warf Steine und Brandsätze auf die Synagoge. 186 wurden festgenommen, gegen drei Haftbefehl erlassen, einer wurde verurteilt. Brandanschlag auf eine Berliner Synagoge. Täter unbekannt. Am 09. November 2003, am Jahrestag der Novemberpogrome, plante die rechtsextreme „Kameradschaft Süd“ einen Bombenanschlag auf das Jüdische Zentrum München. Die Polizei konnte den Anschlag vereiteln. Unbekannte Täter warfen eine Rauchbombe in einen jüdischen Kindergarten in Berlin. Während des ganzen Jahrzehnts unzählige Synagogen- und Friedhofsschändungen.

Auch die 10er beginnen mit einem Brandanschlag. Diesmal nicht auf eine Synagoge, sondern auf das „Haus der Demokratie“ in Zossen, in dem gerade die Ausstellung „Jüdisches Leben in Zossen“ gezeigt wird. Das Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder. Ein Neonazi kam in Haft. Brandanschlag auf die Wormser Synagoge, die Täter wurden nie gefasst. In einem Bekennerschreiben forderten sie von den Wormser Juden, die Palästinenser in Ruhe zu lassen. Eine Gruppe Jugendlicher mit arabischem Migrationshintergrund wirft in Hannover Steine auf die Tanzgruppe der Liberalen Jüdischen Gemeinde und ruft dabei „Juden raus!“. Eine Tänzerin wird verletzt. Brandanschlag auf die Begräbnishalle des Jüdischen Friedhofes in Dresden. Brandanschlag auf die nur wenige Wochen zuvor eingeweihte Mainzer Synagoge. Täter nie gefasst. In Gosen wurde das Wohnhaus eines bekannten Juden mit antisemitischen Parolen beschmiert und mit Brandbeschleunigern angezündet. Die Täter wurden nie gefasst. Der Rabbiner Daniel Alter wurde in Begleitung seiner siebenjährigen Tochter auf offener Straße von vier Jugendlichen mit arabischem Migrationshintergrund überfallen und misshandelt. Er erlitt einen Jochbeinbruch. Die Täter wurden nie gefasst. Im Juli 2014 kam es im gesamten Bundesgebiet zu antisemitischen und israelfeindlichen Demonstrationen und teilweise heftigen Ausschreitungen. Auf fast allen Demonstrationen wurden heftige antisemitische Parolen, wie „Jude, Jude feiges Schwein, komm heraus und Kämpf allein!“ oder „Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“, gebrüllt. Im Ruhrgebiet konnte man auf einer von der Jugendorganisation der Partei „Die Linke“ (Solid.NRW) organisierten Demo staunend beobachten, wie so genannte anti-imperialistische Autonome, Rechtsextreme und Islamisten einhellig gemeinsam antisemitische Parolen riefen. Im Umfeld dieser Demonstrationen kam es zu einem Brandanschlag durch drei junge Palästinenser auf die Wuppertaler Synagoge. Zwei der Täter wurden zu einer Bewährungsstrafe und 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Im Berufungsverfahren strich das Gericht die gemeinnützige Arbeit. 2016 schubste ein 49-Jähriger einen Juden auf ein Bahngleis und hinderte ihn durch Tritte gegen seinen Kopf daran, wieder emporzuklettern. Bei seiner Festnahme erklärte er: „Ich habe das gemacht, weil er ein Jude ist. Das nächste Mal mache ich es richtig.“ Das antisemitische Motiv wurde in der Pressearbeit der Polizei und im Urteil verschwiegen, auch weite Teile der Berichterstattung thematisierten es nicht. Ein jüdisch-amerikanischer Professor wurde, weil er eine Kippa trug, 2018 in einem Bonner Park von einem 20-jährigen Deutschen palästinensischer Herkunft verprügelt. Als die gerufene Polizei eintraf, verprügelten die Beamten den jüdischen Professor dann abermals, weil sie ihn nach eigenen Aussagen für den Aggressor hielten. Im Rahmen der Ausschreitungen von Chemnitz wurde kurz darauf ein koscheres Restaurant von einer Horde Rechtsextremer demoliert und der Besitzer verletzt. Am 5. Oktober 2019, nur 4 Tage vor dem Anschlag in Halle, kletterte ein mit einem 20-cm langem Messer bewaffneter Syrer über den Zaun der Neuen Berliner Synagoge und rannte „Allahu Akbar“ schreiend auf die Synagoge zu. Der Mann konnte von anwesenden Polizisten nur mit gezogener Waffe und unter Einsatz von Pfefferspray überwältigt werden. Der Mann wurde am nächsten Tag entlassen. Am 9. Oktober dann der Anschlag auf die Synagoge in Halle. Und natürlich auch im zurückliegenden Jahrzehnt unzählige Synagogen- und Friedhofsschändungen.

Diese Aufzählung ist natürlich nicht vollständig. Es sind die größten und schockierendsten Fälle. Unzählige Körperverletzungen, Beleidigungen, Spuckattacken und Sachbeschädigungen tauchen überhaupt nie in einer Liste auf. Und es fehlen sämtliche Vorfälle aus der DDR. Aber das ist der Hintergrund vor dem eine Äußerung steht, die besagt, dass der Anschlag in Halle „unvorstellbar“ sei. Das zu sagen ist nachgerade lächerlich und peinlich. Man muss sich nicht einmal etwas vorstellen. Es reicht, dass man sich daran erinnert.

Antisemitismus liegt an der Wurzel des gesamten Hasses auf Aufklärung, Menschenrechte und die Werte der Moderne. Antisemitisches Potential gibt es in allen Bereichen der Gesellschaft. Die Linke hat ein antisemitisches Potential, die Rechte hat ein antisemitisches Potential, das Christentum und die beiden großen Kirchen haben ein antisemitisches Potential, der Islam hat ein antisemitisches Potential und selbst wenn es viele nicht hören wollen, auch die so genannte Mitte hat ein antisemitisches Potential. Dieses Potential verwirklicht sich in den verschiedenen Gruppen – auch das gehört zur Analyse – in unterschiedlichem Ausmaße. Aber es lässt sich nicht wegerklären. Man kann und darf „die eigenen Leute“ nicht pauschal freisprechen. Und auch Bildung immunisiert nicht gegen Antisemitismus. Es gibt hochgebildete Antisemiten. Die Mutter des Täters von Halle, von Beruf Lehrerin, wird in einem Spiegel-Artikel wie folgt zitiert: „Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?“ Das ist ein wichtiger Satz. Man sollte ihn nicht abtun. Man sollte gut über diesen Satz nachdenken und sich darüber klar werden, wie anschlussfähig dieses Denken ist.

In unserer vom Waren produzierenden postmodernen Kapitalismus durchdrungenen Gesellschaf tritt Herrschaft, Ungerechtigkeit und auch Leid erzeugende Gewalt oft vermittelt auf, als abstraktes und vertracktes Geflecht aus Sachzwängen, kalter Marktlogik und der Summe vieler einzelner Handlungen. Sucht man nach Gründen, recherchiert man Ungerechtigkeiten hinterher, irrt man allzu häufig von Ursache, zu Wirkung, zu Ursache und findet doch keinen ursprünglichen Grund, der das alles verursacht, weil man aus der Betrachtung der einzelnen Zahnräder kein Verständnis der Maschinerie entwickeln kann, oder zumindest nur sehr schwer. Der Antisemitismus ist einzigartig, weil er allein es vermeintlich schafft, all dies universell zu erklären. Der Antisemitismus hat für jede Ursache die Wirkung parat: Den Juden und das Judentum. Der Antisemitismus ist die Synthese in einer perversen Dialektik, die den Juden zugleich als niederes, zu hassendes Wesen kategorisiert, über das man sich stellen kann und gleichzeitig als den mächtigen und schier unbezwingbaren Strippenzieher, mit der herbeiphantasierten jüdischen Weltverschwörung als letztem Grund für jedes Leid auf der Welt. Und deswegen ist Antisemitismus in seiner letzten Konsequenz auch immer eliminatorisch, immer auf das Töten von Juden aus, weil er das Töten von Juden als einzige Möglichkeit, das Leid zu beenden, offenlässt.

Diese Denkform ist dadurch, dass sie so verführerisch und einleuchtend simpel ist, unheimlich effektiv und hat sich so stark in das Denken vieler Gesellschaften hineingefressen, dass antisemitische Stereotype, wo sie bekämpft werden, in ihrer offensichtlichen Form zwar vielfach verschwunden sind, in ihrer Struktur allerdings geblieben sind. „Die Leute hinter der finanziellen Macht.“ Die Strippenzieher. Die Verschwörung. Und es braucht nie viel um diese zurückbleibenden Strukturen wieder mit ihrem ursprünglichen antisemitischen Gehalt zu füllen. Und das passiert. Ob durch ungeplante Radikalisierung von Individuen im Internet, oder durch geplante Radikalisierung von anderen Antisemiten. Und manchmal kleidet sich der Antisemitismus in ein komplett anderes Gewand, wenn er in Form und Auftreten genau gleich bleibt und inhaltlich nur den Juden durch den Staat Israel ersetzt. Und dadurch nur umso mehr Anschlusspunkte findet.

Das viel genutzte und wenig verstandene „Gegen jeden Antisemitismus“ bedeutet genau das. Nicht nur den Antisemitismus zu bekämpfen, wo man ihn gerade vorfindet, sondern ihn bekämpfen, welche Gestalt er auch immer gerade angenommen hat. Den Antisemitismus nicht nur in seinem Inhalt, sondern auch in seiner Struktur zu bekämpfen. Wachsam gegenüber dem Antisemitismus, auch immer gegenüber sich selbst und in den eigenen Reihen – in den eigenen Parteien, Vereinen und Gruppen – sein. Denn dafür, dass man gegenüber dem Antisemitismus keine „Weckrufe“ oder „Alarmzeichen“ braucht oder ihn für „unvorstellbar“ hält, gibt es als Verteidigung nur zwei Mittel: Vergesst nicht, was passiert ist. Seid immer wachsam.