Türkiye-Wahlen 2023: Eine jungsozialistische Perspektive

Unser Mitglied Nail Akın Kaya ist Student am Institut für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und beschäftigt sich u.a. mit 
migrationspolitischen Themen. Im Rahmen des Erasmus-Austauschprogrammes verbrachte er das akademische Jahr 2021/22 in Istanbul und verarbeitet mit diesem
Text Eindrücke aus dieser Zeit. Dabei betont der Blog einige Aspekte, die in der gegenwärtigen Berichterstattung eine nachrangige Ordnung spielen und wagt
einen kurzen Ausblick auf eine Türkische Republik ohne Langzeit-Herrscher Erdoğan.

Lesezeit: 10 Minuten

„Versprochen, es wird wieder Frühling werden!“

 

Ein Rückblick. Es ist der 15. Juni 2017, ein bedrückendes Grau erstreckt sich über den weiten Himmel Ankaras, der türkischen Haupt- und Regierungsstadt. An diesem Tag noch etwas mehr als sonst, denn es ist Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu (74), der am späten Vormittag die Bürger*innen zum zentral gelegenen Güvenpark bestellte, um nichts geringeres als eine Absage an den autoritären Kurs der Neuen Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan zu verkünden1.

Adalet“ (zu deutsch: Gerechtigkeit), Unabhängigkeit der Justiz, Presse- und Meinungsfreiheit waren die einfachen Botschaften, die rund 20.000 Weggefährt*innen aus breiten Teilen der Gesellschaft für die Vision einer demokratischen Türkei mobilisierten. So begab sich Kılıçdaroğlu mit ihnen auf einen über 420 Kilometer langen, 25 Tage währenden Fußmarsch gen Istanbul. Eine gelungene Selbstinszenierung: Denn der „Demokrat Amca“ (deutsch: Demokraten-Onkel) vermochte seitdem mit einer schärferen Kante zum Erdoğanismus und der Zusammenarbeit mit Akteur*innen der politischen Rechten ein konstruktives Narrativ aufzubauen, das die vermeintliche Alternativlosigkeit der AKP-Wahl für die konservative Wahlbevölkerung aufzuweichen ersucht. Kılıçdaroğlu ist ein Typus Politiker, der in die Zeit passt. Der Joe Biden Türkiyes. Ein Baklava-Olaf, der als Übergangserscheinung eine neue Zeit anbricht.


Ein noch viel weiterer Weg liegt demnach hinter dem von Kılıçdaroğlu angeführten Wahlbündnis Millet Ittifakı (deutsch: Allianz der Nation), welches sich im Nachgang zum Verfassungsreferendum 2017 als parteipolitischer Schulterschluss innerhalb des “Nein”-Lagers formierte und heute als mögliche Wahlsiegerin Erwartungen im In- wie Ausland weckt.
Es möchte das Land wieder auf einen Pfad der Demokratisierung bringen und macht dabei populäre Versprechungen: Schluss mit Korruption und Oligarchie, wirtschaftliche Prosperität, Ausbau des Wohlfahrtsstaats, Reform des Steuersystems, Unabhängigkeit der Justiz, ein Zurück zur Istanbul-Konvention und zum Pariser Klimaabkommen, Visafreiheit im Schengen-Raum. Die Liste ist lang und konkret.
Dahingegen wirkt die Cumhur Ittifakı inhaltlich und personell erschöpft. Während der oberste Wahlkämpfer in der Berichterstattung zuletzt eher mit gesundheitlichen Problemen auf sich aufmerksam macht, wirkt die Kampagnenfähigkeit seiner Partei verblasst. Sie punktet in gewohnter Manier mit Geschenken kurz vor dem Wahltermin: Ein neu erschlossenes Erdgasfeld im Schwarzen Meer soll ein Jahr lang kostenfrei Energie liefern und der Mindestlohn wird nahezu verdoppelt (womit er weiterhin unter der Armutsgrenze liegt). Einen strategischen Ausblick gibt es diesmal nicht, dafür allerdings wieder mal eine Schicksalsentscheidung: Mit Gott in Richtung Paradies oder eben ins Verderben einer vergangen geglaubten CHP, die von gottlosen regiert würde.

Rund zwei Wochen vor der allgemeinen Wahl zur 28. Großen Nationalversammlung und Präsidentschaftswahl am 14. Mai 2023 liegt das Momentum bei der Opposition. Eine Gewichtung aller vorliegenden Umfragedaten ergeben, dass die AKP mit rund 10% Stimmverlust auch weiterhin die stärkste Parlamentsfraktion stellt. Auf dem zweiten und dritten Platz folgen CHP und IYI-Parti, auch die sozialistische HDP wird voraussichtlich den Einzug ins Parlament schaffen, wohingegen gleicheres für die MHP erst durch die Absenkung der Prozenthürde von 10 auf 7% als wahrscheinlich gilt. Bei der direkten Personenwahl unterliegt Amtsinhaber Erdoğan seinem Herausforderer von der CHP in der Tendenz; Die übrigen zwei Kandidaten liegen im niedrigen, einstelligen Prozentbereich. Sollte im 1. Wahlgang niemand eine absolute Mehrheit erlangen, entscheidet sich die Besetzung des Präsidialamts in einer Stichwahl – hier dürften sodann strategische Abwägungen bezüglich der Zusammensetzung des Parlaments eine entscheidende Rolle spielen.

 

„In Einigkeit schreiben wir Geschichte!“

 

Die Millet Ittifakı führt einen Wahlkampf der affektiven Depolarisierung, der insbesondere bei der großen Jugendpopulation fruchtet. Ein Jahrzehnt des tribalistischen Gegeneinander-Aufwiegelns aller Teile der Bevölkerung hat Türkiye derart gespalten, dass politische Kontrahent*innen entweder zu kindermordenden Terroristen oder Auslandsagenten und Vaterlandsverrätern verkommen sind. Sie betont die Notwendigkeit zur Versöhnung überwindbarer Gräben und unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, welche der oppositionelle Präsidentschaftskandidat in seiner Person verkörpert.

Die Not ist groß: Aufgrund hausgemachter Entscheidungen geriet die türkische Volkswirtschaft ab Oktober 2021 zunächst in eine galoppierende, später gar Hyperinflation mit offiziellen Teuerungsraten jenseits der 80%, welche sich nach OECD-Angaben mittelfristig bei 40% stabilisieren dürften. Gekoppelt mit der Abwertung der Türkischen Lira bleiben so die Produktionsstätten vor Ort und die Bevölkerung in Lohn. Aber dieser Verteilungskampf bricht der AKP das Genick. Während strukturell benachteiligte, bildungsferne und fromme Arbeiter*innen, als ökonomisches Kernklientel der AKP, hiervon besonders betroffen sind und wegen dem rasanten Geldumlauf ihre Arbeitskraft veräußern ohne Chance auf Kapitalanhäufung, setzt die Parteiführung diesem lediglich auf kultureller Ebene nationale Prestigeprojekte entgegen, die durch Privatisierung oder Schuldenaufnahme früher oder später durch „die Steuerzahler*innen“ refinanziert werden müssen. Neben der wirtschaftlichen Lage steckt das System Erdoğan außerdem noch in einem manifesten Korruptionssumpf fest, der sich seit der Corona-Krise Stück für Stück lichtet: Die Familie des Machthabers bereichert sich selbst wohl aus der Staatskasse heraus und baut gegenwärtig einen Wolkenkratzer in der New Yorker Downtown, der Sohn des Erdoğan-vertrauten Binali Yıldırım ist, Berichten zufolge, in den Kokainhandel mit Venezuela verwickelt und die mafiösen Schergen der MHP unterlaufen die öffentliche Ordnung (siehe die Geständnisse von Sedat Peker). Zuletzt hat die Erdbebenkatastrophe vom 6. Februar 2023 die Handlungsunfähigkeit der schon lange durch Klientelismus und Korruption gezeichneten öffentlichen Verwaltung offengelegt, die Inkompetenz der installierten Parteisoldaten hat bei der Koordinierung der internationalen Katastrophenhilfe Zeit und Menschenleben gekostet. Das menschliche Verschulden der Bauherren und der Fakt, dass keine politisch Verantwortlichen zurückgetreten sind, hat den Glauben an Gerechtigkeit und Fortschritt mit der amtierenden Regierung weit in beide politischen Lager hinein desavouiert.

 

Dabei tritt die herausfordernde Wahlallianz bewusst nicht als One-Man-Show auf. Die Wahlkampagne wird tatkräftig unterstützt durch den äußerst populären Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu, der dem Wahlbetrug bei der Kommunalwahl 2019 in Istanbul erfolgreich trotzte, sowie durch Mansur Yavaş, der als Oberbürgermeister Ankaras besonders nationalistische, rechts-kemalistisch gesinnte Jugendliche mobilisiert. Als wichtigstes Bindeglied fungiert allerdings ein anderes Schwergewicht des politischen Betriebs: Die nationalkonservative Meral Akşener von der IYI-Partei, welche sich als Abspaltung ehemals führender Mitglieder von der ultranationalistischen MHP unter dem Erdoğan-loyalen Devlet Bahçeli für eine Neuausrichtung der Politik rechts der Mitte nach der Ära Erdoğan stark macht. Sie ist das eigentliche Steckenpferd Kılıçdaroğlus, denn nach der Rückkehr zum parlamentarischen System soll sie als designierte Ministerpräsidentin die Regierungsgeschäfte übernehmen.

 

 

„Frieden in der Heimat, Frieden in der Welt“?

 

Dieser Leitsatz geht auf Mustafa Kemal Paşa, den Begründer der modernen türkischen Nation zurück. Der jungtürkische Revolutionär vertrieb die imperialen Mächte, hegemonialisierte die Herrschaft der Türk*innen über Kleinasien, etablierte die Westbindung von Türkiye, verbannte ethnische Minderheitensprachen des ehemaligen Vielvölkerstaats und modernisierte das Bildungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftswesen des Landes. Was pazifistisch anmutet, übersetzte sich keineswegs in so etwas wie „friedliche Koexistenz allem Bestehenden“, sondern die Vernichtung „innerer Feinde“. Damit verbunden wird der in Türkiye bestrittene Genozid an 1,5 Millionen Armenier*innen sowie die gewaltsame Vertreibung von Pontosgriech*innen, Assyrer*innen und Kurd*innen.

Sollte die politische Führung in Türkiye überhaupt wechseln; Vor welchen Herausforderungen liegt dann die neue Regierung? Welche Konsequenzen hat das für die Beziehungen zwischen Ankara, Berlin und Brüssel? Welche Bedeutung hat das für postmigrantische Türk*innen in der westlichen Hemisphäre? Genau hierin muss nun das Augenmerk progressiver Kräfte liegen.

Es herrscht das größtenteils freie, gleiche, meistens geheime aber unfaire Wahlrecht. Im kompetitiven Autoritarismus von Türkiye heißt das bspw. kurzum: Der Wahlausgang steht nicht im Vorhinein fest, jedoch genießen Regierungsparteien bevorzugte, regulierte Berichterstattung in fast allen Medienhäusern, (halb-)staatliche Institutionen betreiben Wahlwerbung, der freie Zugang zu Informationen zur Willensbildung wird systematisch unterdrückt, es gibt gut dokumentierte Wahlmanipulation im Inland, Oppositionskräfte werden mit polizeilicher und legalistischer Repression bekämpft und ausgeschaltet, regelmäßige Schauprozesse schüchtern die kritische Zivilgesellschaft ein, Rechtsextreme werden für Anschläge auf Dissidenten nicht rechtskräftig oder nur politisch motiviert milde verurteilt.

Hinzu kommen allerlei Probleme, die die aktuelle Regierung aufschiebt: Zinsbelastung des Fiskus, individuelle Überschuldung, ökologischer Raubbau und eine auf Pump gekaufte Wirtschaftsleistung. Die drängendste Herausforderung einer möglichen Regierung unter Kılıçdaroğlu und Akşener wird es sein, den Währungsverfall und die Teuerungsrate zu stabilisieren. Vermutlich werden ihre Weichenstellungen die soziale Schieflage kurzfristig verschärfen, ähnlich wie es die Finanzpolitik und Strukturreformen von 1999 zur Eindämmung der Hyperinflation einläuteten.

 

„Im 100. Jahr der Republik denken, bedenken und abdanken“

 

Wird also am Ende alles gut? Erfahrenere Linke in Türkiye wissen, dass es nie gut wird. Höchstens wird es halt anders.

Erst vergangene Woche verhafteten die Behörden rund 150 (pro-)kurdische Abgeordnete, Journalist*innen, Funktionär*innen und unabhängige Aktivisti während zeitgleich alle Granden der Millet Ittifakı dem Staatspräsidenten mit gesundheitlichen Genesungswünschen huldigten. Sinnbildlich steht dieser Vorgang für das ungeklärte Verhältnis beteiligter Parteien zur kurdischen Partizipation, Selbstorganisation und Identität. In der Verfassung Türkiyes sind Kurd*innen nicht als Volksgruppe anerkannt, in der Öffentlichkeit wird – bis auf das Goldene Jahrzehnt unter Erdoğan – schon immer die Eigenständigkeit aller ethnischen Minderheiten mit Vehemenz unterdrückt.

Mit dem kürzlich veröffentlichten Wahlaufruf für Kılıçdaroğlu in der Präsidentschaftswahl hat die Emek ve Özgürlük Ittifakı, die mehrheitlich von Kurd*innen und Anhänger*innen des Demokratischen Sozialismus gewählt wird, alles andere als eine einfache Entscheidung getroffen.

Aber damit steht die Opposition schlussendlich geeint: 100 Jahre nach der Revolution der Jungtürken soll das „Sultanat“ erneut gestürzt werden!

 

Eine linke Perspektive für Türkiye bietet sich allerdings auch nach dem Ende der AKP-Regentschaft nicht an, sie muss erstritten werden. Der vorpolitische Raum wird weiterhin von der kulturellen Rechten vereinnahmt. Unter den Unterstützer*innen der demokratischen Wende dominiert ein Duktus der Verramschung der türkischen Staatsbürgerschaft, man wolle die Kontrolle über die ethnische Dominanz von „echten“ Türk*innen reinstituieren, indem der arabische Einfluss auf die nationale Gesellschaft zurückgedrängt wird.

Besorgniserregend ist aus progressiver Sicht demnach die seit 2011 andauernde Wanderung von Syrer*innen, von denen sich knapp vier Millionen in Türkiye niedergelassen haben. Rund ein Drittel hiervon sind Minderjährige, von denen wiederum sind 750.000 Personen in Türkiye geboren. In etwa 225.000 Personen besitzen mittlerweile die türkische Staatsbürgerschaft. Trotz sichtbarer Bemühungen seitens der AKP-Regierung hat sich diese Integrationskrise in eine für arabisch-gelesene Menschen lebensgefährliche Xenophobie auf gesellschaftlicher Ebene exkulminiert, gerade unter den Strapazen der Hyperinflation. Seit dem Ende der Open Door-Policy 2015, die im Kontext des sog. EU-Türkei-Flüchtlingsdeal 2016 zu betrachten ist, besteht über die Kettenduldung hinaus sowieso kein positiver Ausblick mehr für die Perspektive der Geflüchteten. Die International Labour Organization schätzt, dass 97% aller Syrer*innen in Türkiye im informellen Sektor beschäftigt und widrigen Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind. Dort konkurrieren sie mit den anderen Arbeiter*innen um knappe, schlecht bezahlte Arbeit. Eine Ungerechtigkeit, die fortbesteht, weil ihre Koordinierung politisch nicht gewollt ist.


Es ist zu erwarten, dass die Millet Ittifakı diese Thematik weiter anfeuert, um mit rassistischen Ressentiments politisches Kapital zu schlagen. So ist es Kemal Kılıçdaroğlu selbst, der verspricht „unsere syrischen Geschwister“ binnen höchstens zwei Jahre „zurückzuschicken“ – wohlgemerkt zu einer Zeit in der Diktator Baschar al-Assad auf dem regionalen Parkett rehabilitiert zu werden scheint. Indes baut bereits das AKP-geführte Innenministerium seit Monaten ungestört an mehreren Standorten Wohnsiedlungen zur Rückführung arabisch-stämmiger Syrer*innen im mehrheitlich kurdisch besiedelten, türkischen Besatzungsgebiet in Nordsyrien (siehe Schutzschild Euphrat & Operation Friedenszweig).
Sollte eine Regierung unter Führung der Millet Ittifakı auf eine Aufkündigung des sog. Flüchtlingsdeals bestehen, weil sie die darin garantierte Visafreiheit ihrer eigenen Bürger*innen nicht gewährt sieht, muss die EU zusammen mit den Vereinten Nationen eine ganzheitliche Aufarbeitung der kriegerischen Handlungen in der Region anstreben, die kriegerische Handlungen verurteilt und ein internationales Tribunal der Tausenden Gefangenen IS-Kämpfer in Kooperation mit der YPG/YPJ in Rojava vorsieht. Ansonsten macht sich die internationale Gemeinschaft aufgrund der Konsequenzen einer Mittäterschaft und die EU der wertepolitischen Indifferenz schuldig.

In der Zeitenwende befindet sich auch der militärische Blick auf Türkiye, zumindest in gewohnter Weise. Schon zur Zeit der Wiener Klassik war es den außenpolitischen Beratern des osmanischen Sultans bewusst, dass die geopolitische Lage, in der sich Türkiye befindet, ein geschicktes Austarieren der Bündnisse gen Westen wie Osten erfordert. Vom Status Quo profitiert Türkiye, welches sich spätestens seit Ahmet Davutoğlus Zeit als Außenminister (heute Gelecek Partisi) anrühmt, innerhalb eines dreigliedrigen Konzepts Strategischer Vertiefung sich als Regionalmacht etabliert zu haben.
Alle relevanten Parteien des Millet Ittifak bekennen sich zur NATO-Mitgliedschaft und wollen die Beziehungen zur EU vertiefen. In Fragen der multipolaren Weltordnung gilt die Bündnistreue des zweitgrößten stehenden Heeres der NATO nicht als gesichert. Die von Staatspräsident Erdoğan geschmiedeten Bündnisse in Richtung Moskau und Teheran, sowie allen voran der Shanghai Cooperation Organization unter Führung Chinas dürften jedoch auch nachfolgenden Generationen der Diskussion um eine Mitgliedschaft einen extrinsischen Wert abgewinnen.

 

„Almanya, schönes Land!?”

 

„Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“, beteuerte einst ein schweizer Schriftsteller zum Umgang mit Türk*innen in Westeuropa. Über 61 Jahre nach dem Anwerbeabkommen 1961 zwischen Türkiye und der BRD sind die Nachfahren türkischer Arbeiter*innen eine etablierte Bevölkerungsgruppe Deutschlands. Entgegen den politischen Realitäten von damals sind türkeistämmige Deutsche heute integrierter Bestandteil in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei legen Daten des SVR-Integrationsbarometer nahe, dass insbesondere die Bundestagswahl 2017 ihre politischen Präferenzen rekonfigurierte. In diese Zeit fällt u.a. der Putschversuch 2015, das Verfassungsreferendum 2017 und die allgemeinen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2018. Medial bespielte das Gebären des türkischen Außenministeriums gegen die Bundesregierung einer stärkeren identitätspolitischen Polarisierung der deutsch-türkischen Community zu. Die sog. Özil-Affäre, die Mobilisierung der AKP-Lobbyorganisation Union Internationaler Demokraten, die türkische Religionsanstalt DITIB machte mit einer Spionageaffäre und antisemitischen wie antichristlichen Kampagnen ihrer Untergliederungen Schlagzeilen, Graue Wölfe bedrohen kurdische und alevitische Kulturvereine  – alle diese Vorfälle sorgten bei der deutschen Mehrheitsgesellschaft bis heute für Unverständnis und einen Sturm der Entrüstung während betroffene Deutsch-Türk*innen sich nach innen isoliert und nach außen von Erdoğan repräsentiert gefühlt hatten. Zeitweise kursierten gar Meldungen, die den Anschein erweckten, die Türkeistämmigen könnten eigentlich „zurück“ ins Land der Vorfahren, so wenig wie sie sich Deutschland zugehörig fühlten.

Noch bis zum 9. Mai können türkische Staatsbürger*innen im Ausland ihre Stimme bei den Wahlen in etwaigen Auslandsvertretungen geltend machen. Bei den Wahlen 2018 lag die weltweite Wahlbeteiligung derselben Wahlbevölkerung bei 41,66% – knapp 53% der Stimmen gingen an die AKP. Unter ähnlichen Rahmenbedingungen votierten die traditionell/islamisch-konservativen Deutsch-Türk*innen mit 64,8% für Erdoğan. Stand 01.05.2023 (18:50 Uhr) liegt die Wahlbeteiligung zu den Wahlen 2023 bei Türk*innen mit Auslandswohnsitz bei rund 16%.

 

„Diejenigen, die wir als Freunde kannten, erschossen uns“

 

Heute geht die größte Gefahr für türkisch-gelesene Menschen in Deutschland nicht mehr von Glatzköpfen in Springer-Stiefeln und Bomberjacken aus. Heute sind es selbstbewusste Akteur*innen, die sich aus der innertürkischen Community erheben, exzentrische Positionen vertreten, für die autonome Selbstorganisation der Kurd*innen in Rojava eintreten und Faschismus und Erdoğanismus ablehnen, welche aus der türkischen Community heraus Einschüchterung und Morddrohungen erfahren. Bei deutschen Sicherheitsbehörden herrscht oft Verwunderung, wenn es heißt, dies sei kein „importierter Zwischenfall von Ausländerextremismus“, sondern deutscher Exportschlager. Wohlgemerkt: Die Grauen Wölfe sind mit ~18.500 Mitgliedern die größte rechtsextreme Vereinigung in Deutschland! Die kürzlich als rechtsextrem eingestufte Junge Alternative unterhält zum Beispiel etwas unter 2000 Aktive.

Vielleicht war dieser nicht-singuläre Moment, wo das Fass zu kippen schien, notwendig. Vielleicht wäre es ansonsten nicht dazu gekommen, dass sich eigenständige Akteur*innen aus der deutsch-türkischen und türkisch-türkischen Community erheben und repräsentative Rollen und Aufgaben im öffentlichen Leben einnehmen, den innermigrantischen Diskurs prägen. Heute sind „die Türken“ nicht mehr die vermeintlich homogene Bevölkerungsgruppe Deutschlands, die fast ausschließlich SPD wählt – wenn sie denn mal wählen darf. Allmählich wird anerkannt, dass Alevit*innen, Kurd*innen, Linke oder sonstige Diaspora-Türk*innen auch dem Rassismus seitens der türkischen Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt sind, dessen politischer Arm bis nach Deutschland reicht und gut vernetzt ist. Insofern müssen politische Parteien anerkennen, dass „gegen Rechts“ zu seins nicht bedeutet, Anhänger*innen tradierten nationalsozialistischen Ideenguts aufzuhalten, sondern die Überhöhung pseudowissenschaftlicher Abstammungsbiografien in allen Communities konsequent zu ächten!

Nur Gesellschaften, die diese Gleichbehandlung ideologischer Positionen vornehmen und migrantische Vielfalt anerkennen, können als Einwanderungsländer gescheit funktionieren.

 

Um es mit dem Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani zu halten: „Je mehr Integration, desto mehr Teilhabe für Minderheiten, desto mehr Mitsprache an Gestaltungsprozessen, desto mehr Gegenwehr!“

„Das Integrations-Paradox“ von Aladin El-Mafaalani – Rezension – DER SPIEGEL

Hintergründe

1: Am Tag zuvor hatte die Cumhuriyetçi Halk Partisi (CHP) aus Protest gegen die politisch motivierte Verurteilung eines Istanbuler Abgeordneten aus den eigenen Reihen die Parlamentssitzung verlassen. Mit den Gezi-Protesten 2013 hatte sich das Bild des derzeitigen türkischen Staatspräsidenten als reformorientierten Demokrat auch für die letzten Zweifler nachhaltig als Trugschluss erwiesen – seitdem, und insbesondere ab den Säuberungswellen im Zuge des gescheiterten Putschversuches vom Juli 2015, erzielte Erdoğan mit populärer Unterstützung, die Inhaftierung kritischer Stimmen und Unterdrückung linker politischer Gegner und Gewerkschaften, die Gleichschaltung der Medienhäuser, die Entlassung Hunderttausender aus dem Staatsdienst sowie die verfassungsgemäße Ausweitung exekutiver Befugnisse, insbesondere durch das Verfassungsreferendum 2017, das den Übergang vom parlamentarischen zum so genannten semipräsidentiellen System einläutete und Erdoğans Herrschaft über das politische System manifestierte.

Die CHP (Deutsch: Republikanische Volkspartei) stilisiert sich als älteste politische Partei zur Bewahrerin des Erbes von Staatsgründer Atatürk. Die Grundwerte der Partei sind: Republikanismus, Nationalismus, Populismus, Laizismus, Reformismus, Etatismus. Sie gilt als sozialdemokratische Schwesterpartei der SPD.

Die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist seit 2002 ununterbrochen an der Macht und wird von Mitbegründer Erdoğan faktisch kontrolliert. Seit längerem werden wichtige Schlüsselpositionen in Universitäten, Wirtschaft, Politik, Medien und Gesellschaft mit Parteimitgliedern besetzt.

Kemal Kılıçdaroğlu ist seit 2010 Vorsitzender der CHP und Oppositionsführer. Als viertes Kind unter sieben Geschwistern wuchs der Sohn eines alevitischen Landschreibers im ostanatolischen Tunceli und Elâzığ auf und baute sich als Versicherungsbeamter und Bürokrat einen Ruf, ehe er ab 2002 als Berufspolitiker zu wirken begann.

Millet Ittifakı: Wahlallianz aus den Oppositionsparteien CHP (Republikanische Volkspartei), IYI-Parti („Gute“-Partei), Demokrat Partisi, Saadet Partisi (Partei der Glückseeligkeit), DEVA (Partei für Demokratie und Fortschritt) & Gelecek Partisi (Zukunftspartei) sowie zwölf weitere Unterstützerparteien

Cumhur Ittifakı: Wahlallianz aus den Regierungsparteien AKP, MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), BBP (Große Einheitspartei), YRP (Wohlfahrtspartei) und vier weiteren Unterstützerparteien

Emek ve Özgürlük Ittifakı: Wahlallianz aus den Oppositionsparteien HDP (Demokratische Partei der Völker), TIP (Türkische Arbeiterpartei), EMEP (Arbeitspartei), EHP (Partei der Arbeiterbewegung), TÖP (Partei der Gesellschaftlichen Freiheit), YSP (Partei der Linksgrünen Zukunft; Plattform für HDP-Kandidierende, welche einem Verbotsverfahren unterliegt). Die Wahlallianz ruft ihre Unterstützer zur Wahl Kemal Kılıçdaroğlus bei der Präsidentschaftswahl auf.

Türkiye befindet sich seit Oktober 2021 in einer schweren Wirtschafts- und Währungskrise. Im Zuge der Ernennung seines Schwiegersohns zum kurzzeitigen Minister für Energie und Bodenschätze, als auch Finanzminister, der politischen Einflussnahme auf die Leitung der Zentralbank sowie einer unorthodoxen Finanzpolitik verloren die Kapitalmärkte das Vertrauen in den Standort. Seither hat die Hyperinflation auch Auswirkungen auf das sozialstrukturelle Gefüge der Bevölkerung. Die Nichtregierungsorganisation Freedom House beurteilt Türkiye seit 2013 als „unfrei“ (Platz 149/180). Das Demokratieforschungsinstitut Varieties of Democracy platziert Türkiye im Liberal Democracy Index auf Rang 141 und im Electoral Democracy Index auf Rang 133 ebenfalls im untersten Terzil.